Der digitale Zwilling: Eine bevorstehende Revolution für Supply Chains?
Futuristic Digital Twin of a Logistics Warehouse with Robotic Automation and Inventory Tracking

Der digitale Zwilling: Eine bevorstehende Revolution für Supply Chains?

In einem zunehmend unvorhersehbaren globalen Umfeld sehen sich Unternehmen in ihren Lieferketten mit bislang unbekannten Herausforderungen konfrontiert. Die Volatilität der Kundennachfrage, gesetzliche Veränderungen, geopolitische Störungen sowie der Druck zur Reduktion des CO₂-Fußabdrucks erfordern ein hohes Maß an Agilität und multidimensionaler Analysefähigkeit. Führungskräfte und Supply-Chain-Manager müssen heute eine Vielzahl komplexer und miteinander verknüpfter Aspekte in ihre Entscheidungen einbeziehen. Damit wird die Fähigkeit, Aktivitäten präzise zu steuern, vor allem aber alternative Szenarien und Optimierungsmöglichkeiten zu simulieren, zu einem unverzichtbaren Element. Der digitale Zwilling, eine Technologie, die es erlaubt, ein Asset oder eine Organisation in all ihren Eigenschaften virtuell nachzubilden, bietet hier ein großes Potenzial. Doch wann wird das Realität? Wann sind Unternehmen bereit, vom digitalen Zwilling zu profitieren?

Wachsende Anforderungen an Transparenz und Entscheidungsunterstützung in einem komplexen Umfeld

In den letzten Jahren reihten sich unvorhersehbare Krisen aneinander: der wirtschaftliche Stillstand während der COVID-Pandemie, der darauffolgende Nachfrageboom, die Havarie der Ever Given im Suezkanal, die Invasion in die Ukraine, Sicherheitsrisiken im Roten Meer und vieles mehr. Diese Ereignisse führten regelmäßig zu akuten Störungen in globalen Lieferketten, und gaben den Anstoß zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen in der Supply Chain.

Angesichts dieser raschen Umwälzungen müssen Akteure der Supply Chain flexibel reagieren und ihre Planungsprozesse ganzheitlich auf drei Ebenen betrachten: strategisch (Sortimentsgestaltung, Verhandlungen, S&OP & IBP), taktisch (Absatzplanung, Produktionsplanung) und operativ (Auftragsabwicklung, Produktion, laufende Materialflüsse). Dadurch lässt sich langfristiger Wert schaffen und gleichzeitig eine optimale Ressourcennutzung auf allen Ebenen erreichen, insbesondere in Zeiten, in denen Unternehmen zunehmend auch soziale und ökologische Aspekte hinterfragen müssen.

Diese Vorgehensweise ist zwar nicht grundsätzlich neu, muss aber heute in einem völlig anderen Tempo umgesetzt werden: Entscheidungen, und damit auch die Analysen, die ihnen zugrunde liegen, müssen in immer kürzerer Zeit getroffen werden. Klar ist: Die manuelle Erstellung von Analysen, die zahlreiche Dimensionen (wirtschaftlich, ökologisch, Service-Impact…) auf unterschiedlichen Granularitäten (global, national, Lager- oder Werksebene) und unter Einbeziehung zahlreicher Stakeholder (Spediteure, Lieferanten, Kunden…) integrieren müssen, passt nicht mehr zu diesem neuen Anspruch. Ebenso ist es in einem so unsicheren Kontext nicht mehr ausreichend, ein oder zwei Szenarien zu testen. Zur Notwendigkeit schnellerer Entscheidungen kommt deren wachsende Komplexität hinzu.

Es geht also darum, mehr Parameter zu simulieren, und das deutlich schneller. Klar ist: Die Kombination der (unbestreitbaren) Expertise von Supply-Chain-Teams in klassischen Tools wie Tabellenkalkulationen reicht nicht mehr aus.

Das Potenzial des digitalen Zwillings

Bei dieser scheinbar unlösbaren Aufgabe könnte Technologie zumindest einen Teil der Lösung darstellen: Der digitale Zwilling erfüllt auf dem Papier eine ganze Reihe aktueller Anforderungen. Bei einem digitalen Zwilling handelt es sich allgemein um ein digitales, präzises Abbild eines physischen Assets oder einer Organisation (hier der physischen Supply Chain), das die Visualisierung von Material- und Informationsflüssen in Echtzeit erlaubt, Projektionen verifiziert und vor allem Optimierungsmöglichkeiten simuliert.

Anders als herkömmliche, statische Dashboards, stellt der digitale Zwilling auch eine interaktive, benutzerfreundliche Plattform bereit, auf der Supply-Chain-Manager Szenarien testen, Auswirkungen von Entscheidungen vorhersagen und Prozesse an vielfältigen Zielen ausrichten können. Man stelle sich vor, dass beispielsweise eine Führungskraft in Echtzeit die Auswirkungen eines Lieferantenwechsels auf Lieferfristen, Kosten, CO₂-Bilanz oder Resilienz gegenüber geopolitischen Risiken analysieren kann.

Ein digitaler Zwilling der Supply Chain ermöglicht genau das, indem er eine statische Sichtweise in ein dynamisches Steuerungs- und Entscheidungsinstrument verwandelt. Simulationen, unterstützt durch künstliche Intelligenz (KI), erlauben es, weitaus mehr Parameter zu berücksichtigen als bisher, wodurch Entscheidungen fundierter und schneller getroffen werden können. Die Technologie versetzt Supply-Chain-Verantwortliche in die Lage, Entscheidungen in Echtzeit zu simulieren, zu prognostizieren und zu optimieren – und so ihre Lieferketten agiler und widerstandsfähiger zu machen. Gleichzeitig kann sie Risiken und Chancen aufdecken, die bislang verborgen waren.

Zahlreiche Barrieren müssen noch überwunden werden

Natürlich klingt all das bislang noch sehr theoretisch, und tatsächlich können nur wenige Organisationen von sich behaupten, ihre Lieferkette bereits mithilfe eines digitalen Zwillings transformiert zu haben. Der Grund dafür ist, dass weiterhin deutliche Herausforderungen bestehen.

Die erste ist technischer Natur: Die Einführung eines digitalen Zwillings erfordert enorme Datenmanagement-Anstrengungen, um über verlässliche und vor allem vergleichbare (also standardisierte) Daten zu verfügen. Ansonsten droht das bekannte Prinzip: „Garbage in, garbage out“. Die Datenqualität war in Lieferketten jedoch historisch immer ein Schwachpunkt. Darüber hinaus stellen die verfügbaren Rechenkapazitäten, sowohl innerhalb der Supply Chain, als auch insgesamt im Unternehmen, nach wie vor ein Hindernis dar, insbesondere für komplexe Algorithmen zu Verarbeitung großer Datenmengen. Besonders problematisch ist dies, da im Supply Chain Bereich die verfügbaren Daten stark fragmentiert sind und von verschiedenen Tools, Sensoren und Systemen, sowie zahlreichen unterschiedlichen Stakeholdern kommen. Neben einem sehr gut organisierten Datenmanagement braucht es also auch effizientere, stärker vereinheitlichte Datenarchitekturen, nicht nur innerhalb der Supply Chain, sondern organisationsübergreifend, da ein „vollständiger“ Digital Twin zwangsläufig eine bereichsübergreifende Sichtweise erfordert.

Die zweite große Herausforderung betrifft die Teams. Strategisch denkende Führungskräfte benötigen zunehmend komplexe Analysen, simulationsgestützte Einblicke über die gesamte Lieferkette hinweg und ein klares Verständnis der Auswirkungen zentraler Entscheidungen. Auf operativer Ebene hingegen, bei den Experten, die die Simulationsinputs definieren sollen, fehlt es oft an Ausbildung und Sensibilisierung für solche Tools, trotz erheblicher Fortschritte in den letzten 15 Jahren. Kurzgesagt fehlt damit ein zentrales Bindeglied in der Kette, ausgeprägte technische Kompetenzen sind im Bereich der Supply Chain weiterhin Mangelware. Und obwohl Schulungen im Supply Chain Bereich zunehmend Themen wie Modellierung, KI und Datenmanagement einbeziehen, reichen sie noch nicht aus, um einen großflächigen Kompetenzaufbau zu ermöglichen.

Kurzum: Es besteht ein grundlegender Bedarf an Change-Management. So gut ein Tool auch entwickelt sein mag, ohne begleitende Transformation wird es als undurchsichtige Blackbox wahrgenommen, die die Expertise des Teams in Frage stellt und folglich abgelehnt wird. Es ist entscheidend, die Kluft zwischen fachlicher Expertise und technologischer Leistungsfähigkeit zu überbrücken. Paradoxerweise könnte so selbst bei erfolgreicher Implementierung eines digitalen Zwillings eine Verbesserung in der Entscheidungsfindung ausbleiben, wenn die durchgeführten Simulationen eine zu große Masse an Szenarien und Parametern ergeben, die die Mitarbeiter überfordert.

FAZIT

Das Thema Digitaler Zwilling in der Supply Chain steht beispielhaft für viele technologische Entwicklungen, und offenbart ein klassisches Paradoxon: Unternehmen, die zu spät adaptieren, geraten ins Hintertreffen; wer jedoch zu früh oder unvorbereitet startet, läuft Gefahr, durch mangelnde Anpassungsfähigkeit zu scheitern. Der Schlüssel liegt in einer geordneten Herangehensweise, wie im Artikel aufgezeigt, etwa durch konsequentes Datenmanagement und systematische Kompetenzentwicklung in den Teams. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, stehen die Technologien bereit, mit all ihren neuen Fragen, aber auch zahlreichen Lösungen, die nur darauf warten, eingesetzt zu werden.

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